Unbehagen. „Lebensraum“ – ein Beitrag zur touristischen Debatte
Was meint eigentlich dieser Begriff „Lebensraum“? Wenn man in den üblich Verdächtigen nachschlägt, heißt es im Duden: „a.) Lebensraum = Biotop sowie b.) Raum, Umkreis, in dem sich jemand oder eine Gemeinschaft [frei] bewegen und entfalten kann“. Bei Wikipedia findet sich Ähnliches, ergänzt aber mit dem Hinweis: „Karriere machte der Begriff in der Geopolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus, was seine Verwendung seither erheblich beeinträchtigt.“ Verwiesen wird dabei auf einen Aufsatz des Würzburger Juristen und Rechtsphilosophen Horst Dreier, der in einem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel Wirtschaftsraum, Großraum, Lebensraum: Facetten eines belasteten Begriffs im Grunde genommen eine Debatte abschließt: „Mit dem Kampf um Lebensraum verbindet sich (…) die Vorstellung einer unlimitierten Radikalisierung, einer aller Maßstäbe sprengenden und aller Normen ledigen gewaltsamen Untat, einer epochalen Katastrophe – bis heute und wohl noch weit über den heutigen Tag hinaus.“[1]
Damit wäre der Begriff eigentlich erledigt gewesen bzw. eher ausschließlich in den Kontext naturwissenschaftlicher Betrachtungen (Lebensraum der Fledermäuse) verwiesen worden, hätte er nicht eine merkwürdige Karriere im Tourismus gemacht.
In älteren Standardwerken findet sich der Lebensraumbegriff noch nicht. Klassisch marktökonomisch wird z.B. bei Bieger/Beritelli 2013 eine Destination als „Wettbewerbseinheit im Incoming Tourismus, die als strategische Geschäftseinheit geführt werden muss“ (Bieger/Beritelli, Management 2013, S. 54) definiert. Aber vielleicht liegen ja darin auch die Ursachen des Problems? Destinationen wurden seit den 1990er Jahren als Räume betrachtet, die in Konkurrenz um Gäste stehen. Mehr Angebote, mehr Gäste, mehr Buchungen, mehr Übernachtungen, scheinbar mehr Erfolg.
Die Schattenseiten dieser Art von Tourismus, dem man jahrzehntelang nahezu ausschließlich positive Auswirkungen (Wertschöpfung, Völkerverständigung, politisch-sozialer Wandel etc.) zugesprochen hatte, wurden nicht thematisiert. Zwar hatte schon Ende der 1950er Jahre Hans Magnus Enzensberger die Sentenz geschaffen: „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“, doch war das nicht mehr als ein Kassandraruf, der ungehört blieb.
Und die Touristen kamen. Angeheizt durch immer billigere Transportmittel und Unterkünfte in Kombination mit der Reichweite Sozialer Medien, vielen globalisierten Annehmlichkeiten und einer relativ stabilen Weltwirtschaft wurde noch jeder Geheimtipp Hotspot.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Seit Mitte der 2010er Jahre protestierten Anwohner*innen in vielen europäischen Tourismusorten (z.B. Barcelona, Palma und Venedig), 2018/19 stellte Amsterdam sogar sein touristisches Marketing ein. Der „Lebensraum der Einheimischen“, das sich als Wortpaar im Übrigen merkwürdig zoologisch anhört, trat plötzlich ins Rampenlicht touristischer Debatten.
Hier taten sich vor allem süddeutsche, österreichische und norditalienische Destinationen und Autoren hervor, die, recht unbeschwert, den Begriff „Lebensraum“ für sich entdeckten, weil „plötzlich“ festgestellt wurde, dass der Tourismus als positiv-negativer Entwicklungsmotor auch immer Auswirkungen auf die geografisch, infrastrukturelle und kulturell-soziale Ausstattung von Räumen hat.
Kaum eine touristische Konferenz, eine touristische Entwicklungsstrategie oder zeitgeistiger Artikel kommt mittlerweile ohne dieses Trendwort aus.
Doch ist es deswegen richtig? Dagegen sprechen meines Erachtens vor allem drei Gründe.
Nein, denn auch wir als Touristiker*innen haben eine Verantwortung für unsere Sprache.
Gerade in einer Zeit, in denen Autokraten erneut nach Gebieten greifen, die ihnen nicht gehören, und „Lebensraum“ proklamieren, sollten wir achtsam sein und uns nicht herausreden mit „aber das ist doch etwas anderes“ oder „wir dürfen diese Begriffe nicht von rechts besetzen lassen.“
Nein, denn wir sind als Touristiker*innen mitgestaltende, aber nicht steuernde Institutionen.
Tourismus in seinen Erscheinungsformen ist oft als sog. „freiwillige Aufgabe“ und „weicher Standortfaktor“ definiert. Er befindet sich in einer permanenten Verteidigungshaltung, die teilweise dadurch verstärkt wird, dass er selbst als ökonomische Kraft z.B. gegen industrielle Ansiedlungen kaum politische Wahrnehmung findet. Die Coronakrise, in der touristische Einrichtungen mit die ersten waren, die zusperrt worden, und zu den letzten gehörten, die wieder öffnen durften, hat bei vielen das Gefühl eines Bedeutungsverlustes verstärkt. Und war eine Welt, die nur aus Wohnen und Arbeiten während der Lockdownzeiten bestand, nicht öde?
Hinzu kommt: werden nicht viele vermeintlich touristische Infrastrukturen und Einrichtungen nicht auch von den Bürger*innen Einheimischen genutzt?
Kein Wunder, dass es verführerisch ist, sich als Touristiker*in als kreativer Raumgestalter*in mithin als Lebensraumgestalter*in zu definieren. In der Regel sind Destinationsmanagement-Organisationen allerdings bei Planungsprozessen oft nicht einmal „Träger öffentlicher Belange“ oder sitzen nur am „Katzentisch“ kommunaler Entscheidungen. Nicht sie verantworten z.B. in der Regel den Bau von Radwegen, die Finanzierung von Kulturveranstaltungen oder das kommunale Flächenmanagement. Stattdessen ist die Gestaltung von Räumen als Orte zum Leben, Arbeiten, Wohnen und Erholen eine mannigfaltige Maschinerie, in denen die Tourismusverantwortlichen einen wichtigen, aber (leider) nicht steuernden Einfluss haben.
Nein, denn wir meinen etwas anderes, als wir sagen.
Hinter vielen der touristischen Publikationen und Strategien, die das Wort „Lebensraum“ oder „Lebensraummanagement“ benutzen, steckt vor allem a.) die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Wohnbevölkerung in einer Destination bei der touristischen Entwicklung b.) die Wiederentdeckung der Freizeit- und Erholungsräume oder anders ausgedrückt, die plötzliche Feststellung, dass der „Tourist“ oft einfach nur jemand aus dem gleichen Landkreis, aus dem Nachbarort oder Stadtbezirk oder einem angrenzenden Ballungsraum ist sowie c.) touristische Infrastrukturen und Einrichtungen oft zur Lebensqualität der Bürger*innen beitragen.
Das ist alles richtig, macht aber nur einen Teil des „Lebens“ der Bevölkerung aus. Wohnen, Bildung, Arbeit, Gesundheit, Kultur, Mobilität und vieles mehr gehört zu dem dazu, was oft als „Lebensraum“ begriffen wird, aber für das Touristiker*innen keine Prokura haben.
Was in der Praxis oft gut funktioniert, ist allerdings die Entwicklung und Kommunikation einer gemeinsamen Standort- und Destinationsmarke, die ein konsistentes Außenbild eines Ortes oder einer Region über verschiedene Bereiche der Lebens-, Freizeit- und Urlaubsqualität vermittelt.
Zwischenfazit
Das Unbehagen bleibt also. Der Begriff „Lebensraum“, insbesondere wenn er dann noch mit Erweiterungen wie „Lebensraummanagement“ verbunden ist, trägt einerseits ein Versprechen in sich, das in der Realität touristischer Organisiertheit nicht gehalten werden kann, andererseits ist er vor dem Hintergrund seines historischen Gebrauchs untauglich für weitere Verwendungen. Daran ändert auch nichts, dass er in jüngerer Zeit inflationär von Beratungsunternehmen, Coaches, Wissenschaftler*innen und nachfolgend auch Touristiker*innen gebraucht wird.
Ein bisschen mehr Anstrengung braucht es schon, um das zu beschreiben, was der Tourismus zur Gesellschaft beiträgt, außer einem neuen Framing. Mit der Inbesitznahme eines falschen Begriffs ist es nicht getan.
[1] Dreier, H., Staatsrecht 2016, S. 343.